Das adrenogenitale Syndrom (AGS) 

Unter einem adrenogenitalen Syndrom versteht man eine hormonelle Bildungsstörung vor allem von Cortisol, teilweise auch von Aldosteron, die beide in der Nebennierenrinde gebildet werden. Ursächlich ist ein autosomal-rezessiv vererbter Gendefekt.

Die unterschiedlichen Formen des AGS ergeben sich hierbei aus den jeweiligen genetischen Störungen der an der Biosynthese beteiligten Enzyme. In über 95 % der Fälle ist das Enzym 21-Hydroxylase betroffen.

Hierbei kommt es durch die verminderte Cortisolsynthese und Rückkopplung an die Hypophyse mit vermehrter ACTH-Ausschüttung zu einer Akkumulation von 17-OH-Progesteron. Dieses wird zum Teil enzymatisch vermehrt zu Androgenen umgebaut und anteilig über den Urin ausgeschieden.

Abbildung 1: Störung der Biosynthese von Hormonen beim AGS

Formen und Häufigkeit

Das AGS mit 21-Hydroxylase-Defekt tritt in der klassischen und der nicht-klassischen Form auf. Der klassische Defekt kann als AGS mit Salzverlustsyndrom und als unkomplizierteres/einfaches „AGS ohne Salzverlustsyndrom“ auftreten.

Die Prävalenz des klassischen AGS liegt weltweit bei ca. 1:12.000–1:13.000. Die Prävalenz heterozygoter, klinisch unauffälliger Anlageträger wird jedoch auf ca. 1:55 geschätzt. Das nicht-klassische AGS („late-onset AGS“) ist von der Symptomatik her wesentlich milder ausgeprägt und kann sogar komplett asymptomatisch verlaufen. Die geschätzte Prävalenz ist noch relativ ungenau und liegt weltweit wahrscheinlich bei 1:100–1:1.000.

Störung der Biosynthese von Hormonen beim AGS

Klinik

a) Klassisches AGS

Das klassische AGS manifestiert sich bei betroffenen Mädchen in der Regel direkt postpartal durch die pränatal in utero entstandene Virilisierung des äußeren Genitals (einfache Klitorishypertrophie bis hin zur Fusion der Labioskrotalfalten mit penisartig vergrößerter Klitoris und erweiterter Harnröhre auf der Glans penis). Das Genital betroffener Jungen ist in der Regel zunächst unauffällig.

Beim klassischen AGS mit Salzverlust kommt es bei den Kindern bereits in den ersten Lebenstagen und -wochen zu einem zusätzlichen Aldosteronmangel. Daraus resultieren schwere Störungen des Mineralhaushaltes mit lebensbedrohlichen Salzverlustkrisen u.a. verbunden mit Hypotonie, Gewichtsverlust, Apathie und Erbrechen („Addison-Krise“).

Bei beiden Geschlechtern kommt es beim „einfachen“ AGS bedingt durch die vermehrte Bildung der Androgene zu einer Pseudopubertas praecox. Klinisch zeigen die Kinder einen relativen Hochwuchs durch ein beschleunigtes Knochenwachstum. Demgegenüber bleiben die betroffenen Personen im Erwachsenenalter durch einen verfrühten Epiphysenfugenschluss eher klein. Des Weiteren neigen Betroffene zu übermäßiger Akne, vorzeitiger Genitalbehaarung und einer Schweißneigung. Bei Männern sind die Hoden eher klein und es kann unter Einfluss von ACTH durch Proliferation versprengter Nebennierenzellen im Hoden zur Bildung benigner, testikulärer adrenaler Resttumoren (TART) kommen.

b) Nicht-klassisches AGS

Das nicht-klassische („late-onset“) AGS hat einen milderen Enzymdefekt als Ursache. Die klinische Symptomatik kann bis ins Schulalter oder bis zur Adoleszenz ausbleiben, eine pränatale Virilisierung bei Mädchen bleibt in der Regel aus. Symptome ähneln denen des „einfachen AGS“. Bei Mädchen in der Pubertät und bei erwachsenen Frauen kommt es u.a. zu Hirsutismus, Klitorishypertrophie, Seborrhoe, Akne, tiefer Stimme, Alopezie und ggf. Glabella. Des Weiteren treten Störungen im Blutzucker und Insulinhaushalt auf. Bei einigen Frauen wird das Syndrom auch erst durch Zyklusstörungen und Sterilität klinisch manifest. Bei Männern sind die äußerlichen, klinischen Symptome häufig weniger dominant.

Diagnostik

Die Diagnose eines AGS erfolgt klinisch, laborchemisch und molekulargenetisch.

a) Klassisches AGS

Neben der bereits beschriebenen klinischen Symptomatik wird die klassische Form des AGS mit 21-Hydroxylase-Defekt seit 2005 in Deutschland im Rahmen des Neugeborenenscreenings am 3. Lebenstag in der Regel durch eine Blutabnahme aus der Ferse mit Bestimmung von 17-OH-Progesteron abgeklärt. Das ermöglicht eine frühzeitige Therapie, kann eine Salzverlustkrise verhindern und ein normales Längenwachstum der Knochen ermöglichen. Auf einen Salzverlust hinweisend sind ein erniedrigtes Serumnatrium, ein erhöhtes Serumkalium sowie ein erhöhtes Plasmarenin. In Zweifelsfällen sollte ein ACTH-Stimulationstest (siehe Themenheft Endokrinologische Funktionsteste; Best.-Nr. 110644) erwogen werden. Bei unklaren Befunden kann eine zusätzliche Bestimmung von Pregnantriol im Urin herangezogen werden.

b) Nicht-klassisches AGS

Beim nicht-klassischen („late-onset“) AGS mit 21-Hydroxylase-Defekt sind die basalen 17-OH-Progesteron-Werte in der Regel leicht erhöht, es kommt erst nach einem ACTH-Stimulationstest zu einem exzessiven Anstieg von 17-OH-Progesteron im Blut. Eine Bestimmung von 17-OH-Progesteron ist auch aus dem Speichel möglich. Richtungsweisend sind zusätzlich zu der klinischen Symptomatik erhöhte Androgene (DHEAS, freier Androgenindex, bestehend aus Testosteron und seinem Transportprotein SHBG, sowie ggf. Androstendion). Zusätzlich können das basale Cortisol, ACTH und der Aldosteron-Renin-Quotient aus einer Nüchtern-Blutabnahme sowie die 24-h-Sammelurinbestimmung von Cortisol hilfreich sein.

Die endgültige Sicherung der Diagnose erfolgt über eine molekulargenetische Untersuchung von CYP21A2-, CYP11B1- und HSD3B2-Genen im Blut.

Für spezielle klinische Fragen steht das Team der Humangenetik zur Verfügung:
T: 02361 3000-201  E-Mail: humangenetik(at)LADR.de

Therapie

Ziele der Therapie beim AGS sind der Ersatz der Glucocorticoide (Cortisol) sowie ggf. der Mineralocorticoide (Aldosteron). Eine suffiziente Therapie sollte zu einer Normalisierung der adrenalen Androgene, des 17-OH-Progesterons und der Elektrolyte führen. Beim klassischen AGS wird in der Regel mit dem physiologischen Hydrocortison (= Cortisol, möglichst als Nachahmung des zirkadianen Rhythmus) therapiert.

Im Erwachsenenalter kann nach Abschluss des Längenwachstums ggf. auf synthetische Glucocorticoide mit längerer Wirkdauer (z.B. Prednisolon) umgestellt werden, um eine verbesserte Suppression des ACTH und der adrenalen Androgene zu erreichen. Bei erhöhtem Stress (z.B. fieberhafte Infekte, Operationen etc.) muss die Dosierung zum Teil deutlich erhöht werden.

ACTH-Stimulationstest

(Adrenocorticotropes-Hormon-Stimulationstest, Kurztest, Standard)

Indikation

a) V. a. Nebennierenrinden(NNR)-Insuffizienz

b) V. a. Steroidbiosynthesedefekte (z.B. late-onset adrenogenitales Syndrom (AGS), 21-Hydroxylasemangel)

Testprinzip

Stimulation der Steroidsekretion der Nebennierenrinde durch Applikation von Synacthen® (künstliches Molekül mit ACTH-ähnlicher Wirkung)

Hinweise und Durchführung

  • Kontraindikation (keine Testdurchführung) bei ACTH-Therapie (Gefahr eines anaphylaktischen Schocks)
  • Abklärung AGS: bei normalem Zyklus Testdurchführung in der frühen Follikelphase (3.–8. Zyklustag; Hormonpräparate 4 Wochen vorher absetzen)
  • Messparameter [Material]: Cortisol [Serum], 17-OH-Progesteron [Serum]

Testdurchführung

  1. Blutentnahme basal (0 min)
  2. langsame intravenöse Gabe von 0,25 mg (= 250 μg) Synacthen® (Säuglinge: 125 μg)
  3. Blutentnahme nach 60 min (zusätzliche Abnahme nach 30 min nicht erforderlich, aber für die Interpretation der Ergebnisse ggf. hilfreich)

Bei zusätzlichem Salzverlust ist eine zusätzliche Substitution von Aldosteron erforderlich (Fludrocortison). Hierbei werden zur Kontrolle der korrekten Dosierung Natrium, Kalium und die Plasma-Renin-Konzentration im Serum sowie der Blutdruck der Patient*innen herangezogen.

Beim klassischen AGS ist eine lebenslange Therapie erforderlich. Bei guter und konsequenter Suppressionstherapie können die klinischen Symptome der adrenalen Hyperandrogenämie und bei Männern auch die Bildung testikulärer, adrenaler Resttumoren (TART) gut eingedämmt werden.

Patient*innen mit nicht-klassischem („lateonset“) AGS benötigen nur bei klinisch relevanten Symptomen eine Therapie. Kinder erhalten in diesen Fällen niedrig dosiert Cortisol, während bei erwachsenen Frauen ohne Kinderwunsch häufig orale Kontrazeptiva zur Suppression der erhöhten Androgene eingesetzt werden.

AGS und Kinderwunsch

Prinzipiell besteht bei allen Patient*innen mit AGS bei guter medikamentöser Einstellung normale Fertilität. Bei Mädchen sollte vor der Menarche bzw. vor dem ersten Geschlechtsverkehr eine orientierende gynäkologische Untersuchung stattfinden.

Bei Kinderwunsch sollte vor Eintreten einer Schwangerschaft in jedem Fall eine ausführliche genetische Beratung erfolgen. In Kombination mit einer molekulargenetischen Untersuchung des Partners kann dann eine individuelle Risikoberechnung erfolgen. Daraus kann dann die erforderliche Therapie in der Schwangerschaft abgeleitet werden.

  • Analysen
  • Downloads
  • Konsiliarnetzwerk

Konsiliarnetzwerk